Man wird nicht als Surrealist geboren. Man wird es – auf seine eigene Weise.
(Dorothea Tanning)
Surreale Imagination in Linie, Form und Druckgrafik
Dorothea Tanning war eine US-amerikanische Künstlerin, deren Werk sich über Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Skulptur und Poesie erstreckt. 1910 in Galesburg, Illinois, geboren, wurde sie zu einer der wenigen Frauen, die eng mit der surrealistischen Bewegung verbunden waren – und doch blieb ihr Schaffen zeitlebens radikal unabhängig, experimentierfreudig und zutiefst persönlich.
Bekannt wurde Tanning zunächst durch ihre surrealistischen Gemälde der 1940er-Jahre, doch insbesondere ihre grafischen Arbeiten – Zeichnungen, Lithografien und Radierungen – offenbaren eine intimere, poetischere Seite ihrer künstlerischen Vision. Diese Werke auf Papier sind geprägt von feiner, kraftvoller Linienführung, traumartigen Metamorphosen und geheimnisvollen, weiblichen Figuren, die sich im Prozess des Werdens befinden. Immer wieder kehren Motive wie Verwandlung, Begehren und das Unbewusste zurück – in einer einzigartigen Verbindung aus technischer Präzision und intuitiver Freiheit.
Ihre Herangehensweise an die Druckgrafik war weder dekorativ noch illustrativ, sondern suchend: Tanning nutzte das Medium, um Farbe und Geste zu reduzieren – und damit Raum zu schaffen für die Sprache von Form, Textur und Gedanke. In ihren Händen konnte eine einzige geätzte Linie ganze innere Welten andeuten.
„Ich wollte etwas schaffen, das man nicht benennen kann, das sich jeder Kategorisierung entzieht – etwas, das sich dem Etikett ‚Stil‘ entzieht.“
Tanning lebte und arbeitete mit den großen Gestalten der Kunst des 20. Jahrhunderts – allen voran mit ihrem Lebenspartner Max Ernst, den sie 1946 heiratete. Gemeinsam zogen sie nach Sedona, Arizona, und später nach Frankreich. Durch Ernst lernte sie viele andere Surrealisten kennen, darunter André Breton, Leonora Carrington, Marcel Duchamp, Yves Tanguy, Man Ray und Hans Bellmer. Trotz dieser engen Verbindungen weigerte sich Tanning stets, sich auf ein „Mitglied der Bewegung“ reduzieren zu lassen – ihr Werk spricht eine eigenständige Sprache.
Ihre grafischen Arbeiten verkörpern genau dieses Selbstverständnis: sinnlich und verstörend, elegant und fremdartig – autonome Schöpfungen, die von innerer Freiheit und grenzenloser Vorstellungskraft zeugen.
Dorothea Tanning starb 2012, nur wenige Wochen vor ihrem 102. Geburtstag. Ihr Vermächtnis lebt weiter – in Sammlungen, Ausstellungen und in jeder Zeichnung oder Druckgrafik, die wagt, über das Sichtbare hinauszublicken.